B R I G A N T

Lyrik und Prosa der Kompostmoderne



Ich ging an einem verregneten Tag die Kirschbaumallee hinunter, wie ich es jeden Morgen tat, als ich dem Blick einer Blumenverkäuferin begegnete und feststellte, dass auch dieses Treffen sich jeden Tag von Neuem wiederholte. Bisher ging ich tagtäglich aus meiner Wohnung, durch die verwinkelten Gassen der Altstadt, in Richtung Zentrum, ohne mir dessen bewusst zu sein und ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wer diese Person sein mochte. Ich hatte sie nie wirklich bemerkt. Dennoch schienen unsere Blicke nun wie die zweier Bekannter für eine lange Sekunde aufeinander zu ruhen. Es waren durchaus nicht die Blicke, die man Fremden schenkt, keine hastig musternden Betrachtungen von Kopf bis Fuß, eher ein nüchternes, gezieltes Schauen in die Augen- eine Einsicht- so durchdringend und verständnisvoll, als könnte man dort den Grunde der Seele erahnen. An diesem einen Morgen wurde mir klar, dass ich, ohne je auch nur mit der Frau gesprochen zu haben, sie wohl besser kennen mochte, als viele andere Bekannte und es bedurfte keiner Worte, damit wir uns einander mitteilen konnten. Wie ein verklärtes Bild, das man im Detail nicht zu verstehen mag, wohl jedoch seine Affekte wahrnimmt und sich so eine Assoziation, ein Gefühl oder sogar ein neues Bild in einem aufbaut, das durch Worte nur schwer zu beschreiben ist. Was sie auch nun gerade tat, wenn ich an ihrem Laden entlangging, blickte sie freundlich auf, doch niemals lächelte sie. Sie mochte wohl schüchtern sein, zart und ein wenig naiv, aber dennoch mit starkem Charakter. An diesem einen verregneten Morgen stand sie in Arbeit vertieft hinter dem Tresen im Trockenen, umgeben von bunten Blumen, die bestimmt angenehm gerochen haben mussten. Als ich durch den Regen kam, schien sie meine Ankunft zu erahnen. Wir sahen uns so durchdringend an und wie die eine Sekunde voranschritt, formte sich ihr Mund und ihre Augen zu einem zarten Lächeln und mir eröffnete sich ein neuer Mensch. So wunderbar sie auch ausgesehen haben mochte, ich erinnere mich überhaupt nicht daran. Alles, was mir noch im Kopf schwebt, ist ein Strauß weißer Nelken, den sie gerade band und ihre Augen, die mir so vielsagend entgegenstrahlten. Ich ging ein wenig erstaunt weiter. Als ich nun an jenem regnerischen Morgen die Erkenntnis machte, dass ich nun seit so langer Zeit, jeden Tag auf's Neue, dieser alten Bekannten begegnete, mit der ich aber nie gesprochen hatte, beschloss ich sie am darauf folgenden Tage anzusprechen. Was sollte ich wohl sagen?Was würde sie mir antworten? Es gehörte sich ja auch nicht, irgendwelche Menschen einfach anzusprechen. Ich wusste ja nicht einmal ihren Namen. Und so verbrachte ich den restlichen Tag in Gedanken, wie unser nächstes Aufeinandertreffen verlaufen könnte. Am Tag darauf ereignete sich Folgendes: Ich stand auf, rasierte mich und machte mich auf. Heute wird etwas passieren! Entschlossen schritt ich aus dem Haus, der Weg erschien mir unnormal lang und je mehr sich die Zeit dehnte, je mehr sich meine Erwartungen mit der zurückgelegten Strecke aufplusterten, desto schmerzhafter musste ich feststellen, als ich den Blumenladen erreichte, dass da jemand anders hinter dem Tresen stand. Ein älterer Mann, vielleicht Ende sechzig, mit trüben Augen, stand krummbeinig da und rauchte eine Zigarette. Auf dem Tresen standen immer noch, in Vasen aufgestellt, die Nelkensträuße, die am Tag zuvor gebunden worden waren. Die Tür stand offen und der stechende Geruch von starken Tabak wehte aus dem Blumenladen auf die Straße hinaus. Es war das erste Mal, dass ich davor stehen blieb. Wo mochte die Frau sein? Vielleicht krank? Der Mann im Laden bemerkte mich nicht, rauchte, band irgendeinen Kranz. Ich beschloss am folgenden Tage wieder nach der Frau zu schauen, ging aber am Nachmittag noch in den Laden und suchte mir einen der Nelkensträuße aus, den ich in meine Wohnung stellte. Auch am nächsten Tag fand ich statt der Frau wieder den alten Mann vor und kaufte erneut einen Strauß. Ich habe sie nie wieder gesehen. Doch schaue ich jeden Morgen in den Laden, ob sie nicht doch wieder zurückgekommen ist. Es liegt sowieso auf meinem Weg. Die Regenwolken waren längst verzogen. Hin und wieder kaufe ich einen Blumenstrauß im Laden. Diese muss wohl jemand anders gemacht haben. Vielleicht der alte Mann oder eine Person, die ich mir nicht einmal vorzustellen vermag. Ich habe ja auch schon ganz vergessen wie sie ausgesehen hat. Doch in den Blumen lebt für mich die eine Sekunde auf, in der sich unsere Blicke trafen, sich banden und auseinandergingen und in dem edelsten Lächeln erblühten. Vielleicht haben wir uns für den Moment geliebt. Ihre Augen haben's mir verraten. Ich verweile damit, dass ich – wie gewöhnlich – jeden Morgen an dem Laden vorbeikomme und von Zeit zu Zeit, wenn mir danach war, einen Nelkenstrauß kaufe, den ich in eine Vase auf meinen Nachttisch stelle. Der alte Mann blieb nicht lange im Laden, es kamen bald andere. Und jedes Mal, dass eine neue Person da im Laden steht, glaube ich für einen Moment, es könnte wieder die Frau sein, an die ich so oft gedacht habe, und gehe weiter.



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Als Karl eines trüben Sonntagmorgens nach einer unruhigen Nacht erwachte und sich in sein kleines Wohnzimmer begab, da musste er feststellen, dass dort plötzlich eine Hammond-Orgel stand. Ein einhundertfünfzig Kilogramm schwerer brauner Kasten, ein Relikt aus der analogen Vergangenheit. Das Problem bei der Sache war, dass Karl überhaupt nicht wusste, wo die Orgel herkam, wer sie gebracht hatte, noch wusste er überhaupt irgendwas. Er überlegte. Die Orgel nahm den größten Teil des freien Raumes ein. Er hatte ja letzte Woche Geburtstag gehabt. Und er war Jazzpianist. Womöglich wollte jemand ihm damit eine Freude bereiten, aber wozu der ganze Aufwand in einer offensichtlichen Nacht-und-Nebel Aktion? Und wieso anonym? Karl war geschockt. Irgendwer musste sich Zugang zu seiner Wohnung verschafft und irgendwie dieses Ungetüm unbemerkt in den zweiten Stock bekommen haben. Er eilte zu seiner Wohnungstür, um nach möglichen Spuren zu suchen, aber da war nichts. Die Tür stand abgeschlossen fest in ihren Angeln und auch bei näherer Betrachtung ließ sich nichts unnormales feststellen. Er beschloss, sich erst einmal einen Kaffee zu kochen und wie er seinen Wasserkocher einschaltete, dachte er daran die Orgel wenigstens einmal auszuprobieren. Wenigstens ein einziges Mal, da sie ja immerhin im eigenen Wohnzimmer stand und vielleicht schon morgen schon ganz woanders. Er holte sich einen Klavierhocker, legte den On-Schalter um und setzte sich mit einer gewissen Feierlichkeit - immer noch in Boxershorts - an die Hammond-Orgel und begann zu spielen. Er spielte Speak Softly Love. In ruhigen Wogen brachte er den Holzkasten zum klingen, darüber legte er die leicht schimmernde Melodie. Er improvisierte und füllte seine Linien auf mit Variationen, denen er durch plötzliche Staccati und gelegentliches Gewische eine jeweils andere Färbung verlieh. Er spielte normalerweise Keyboards, keine Orgel, und so hatte er nun umso mehr Spaß dabei, die Pedale schwerfällig zu koordinieren oder an den Registern herumzuspielen. Er erinnerte sich, dass er damals während des Musikstudiums den Kurs „Jazzorgel“ besucht hatte. Das Kaffeewasser in Karls Wasserkocher war bereits schon auf Zimmertemperatur abgekühlt, als er es wieder aufsetzte. Phantastisch, dachte er. Solange er nicht in irgendwelche zwielichtigen Geschichten hineingezogen werden würde. Aber was war mit den mysteriösen Boten? Was sollte die Gegenleistung für dieses Geschenk sein? Er wollte am Ende keinen Pferdekopf in seinem Bett liegen haben und sich deshalb dringend am nächsten Tag auf die Suche nach dem ursprünglichen Besitzer machen. Erstmal genießen, sagte er sich. Morgen kann man ja immer noch weiter schauen. Er nahm sich seine Tasse mit Kaffee und ging zurück zur Orgel. Das war es. Seine Finger flogen beinahe akrobatisch über die Tasten hinweg. Giant Steps. Er spielte sich immer weiter in Rage, hoch und runter, preschte mit Kraft in die Pedale, die er nur mit Mühe angemessen spielen konnte und solierte mit immer neuen Höhepunkten, legte Klangteppiche übereinander, die in Sechzehntel übergingen und sich in neuen Harmonien verloren. Grinsend wippte er auf dem Hocker hoch und runter, vor und zurück und als er nun nach einigen Minuten das Cis-Pedal etwas kräftiger trat, da verhakte es sich unvorhergesehen. Es wurde plötzlich vollkommen still, bis auf ein kräftiges und sonores Contra- Cis, das wie ein tiefes Stöhnen klang. Die Tasten und die weiteren Pedale waren stumm, der stöhnende Ton verklang zäh und Karl hörte ein merkwürdiges Zischen, gefolgt von dem Geruch versengten Plastiks. Die Orgel war gestorben und Karl hatte ein Problem. Sie war nicht wirklich gestorben, ihr Herz, der Motor, arbeitete noch und rauschte unruhig vor sich hin. Lediglich ihre Tasten funktionierten nicht mehr, sie lag in einem Koma und Karl, in dessen Wohnzimmer sich die Orgel nun mal befand, hatte Verantwortung zu tragen. Er müsse sie reparieren. Nein, weg damit. Sie darf aber nicht zerstört werden. Was ist, wenn der echte Besitzer sich meldet? Er müsse sie verschenken. Irgendwer. Irgendwer würde schon etwas ernsthaftes damit anfangen können. Oder er könnte doch nach dem tatsächlichen Besitzer schauen. Nur wie, ohne jeden Anhaltspunkt? Nach einigem Hin-und-her stand es für Karl fest, dass er die Orgel wegschaffen musste, allein des Platzes wegen. Er dachte sich, es könne doch nicht schwer sein so etwas zu verschenken, aber da sollte er sich gewaltig geirrt haben. Karl setzte sich an seinen Computer und gab noch an diesem Sonntag Abend ein Inserat auf.

