B R I G A N T

Lyrik und Prosa der Kompostmoderne


ich will dir sagen wie es war ich dir alles erzählen von anfang an damit du mich verstehst ich will alles gestehen
wie es dazu kam ja und wie es war
es war

Die Nacht zum Sonntag und der Augenblick, bevor die Schmutzsohle seines rechten Schuhs auf dem geknüpften Teppich am oberen Treppenabsatz, direkt vor der Wohnungstür, aufsetzt, und sein Vater im drei Meter entfernten Schlafzimmer an den Folgen seines zweiten Hirnschlags stirbt. Ist es möglich, dass die von seinem Tritt hervorgerufene Erschütterung des Bodens noch im Schlafzimmer des Vaters spürbar ist und dort den Hirnschlag hervorruft? Welche Kräfte wirken, wenn ein Schritt gemacht wird? Die dunkle Sohle des Schuhs ist dreckverkrustet und noch befindet sie sich oberhalb des roten Teppichs, auf den winzige tanzende Figuren gestickt sind. Wie oft steigt er diese Treppe hinauf? Einmal, zehnmal, fünfzehn Mal allein an jenem Abend verharrt sein Schuh über dem Teppich in der Luft, bevor er abstürzt auf die tanzenden Männchen wie ein riesiger Fels, alles zerschmetternd mit der Urgewalt seiner bloßen Masse. Bringt ein Schritt den Tod? Eine Schuhsohle senkt sich auf den Teppich. Unten vor der Haustür hat er die Schuhe abgetreten, um keinen Schmutz in die Wohnung zu tragen. Müde und von den Zeiten gezeichnet erscheint der Vater im Türrahmen und beobachtet die Ankunft seines Sohnes aus graublinden Augen. Der Vater ist ein alter Mann; er steht dort gestützt auf eine Krankenhauskrücke. Sein Gesicht ist hager, zerfurcht und von Furcht durchzogen, seine Wangen haben der Schwerkraft längst die Waffen gestreckt. Er begrüßt den Vater, Fleisch drückt Holz, und betritt die Wohnung. Um einen Tisch herum sitzen die Hoffmanns, ein befreundetes Ehepaar, und Isabel, die Schwester. Vor Kopf schließlich Mathilde, die Mutter. Über gefüllte Töpfe und Schalen hinweg, durch den stehenden Dampf der Speisen, greift der Vater nach dem blankgeputzten Teller seines Sohnes. Er bemüht sich, mithilfe eines Messers ein saftiges Fleischstück von einer Gabel auf dessen spiegelnde Oberfläche gleiten zu lassen. Ein Soßentropfen tropft von der Gabel auf die cremefarbene Tischdecke. Es stellt jemand einen Topf über den Fleck, den man schnell vergisst. Es ist spät am Abend. Der Sohn, kleinköpfig und sinnend, steht am Fenster und sieht hinaus in den Abendhimmel, ein farbiges Band in der Ferne. Wolken ziehen auf. Der Vater kommt zu ihm herüber. Er zieht die grünen Vorhänge vor, während er spricht. Er habe, sagt er, eine Bitte. Er wünsche sich schon seit langem Kopien des Bildes, das er, der Sohn, ihm im letzten Winter zu Weihnachten geschenkt habe, um es seinen Freunden zu schicken. Er sei stolz auf ihn und würde das Bild gerne weiterreichen. Ob er das für ihn tun könne? Er werde ihn berühmt machen, sagt er und lacht ein schelmisches Lächeln. Er brauche sich auch keine Sorgen des Geldes wegen zu machen. Nimm, sagt er, und reicht ihm einen Geldschein. Der Schein überwindet den Spalt zwischen zwei Händen. Eine Verbindung entsteht zwischen Fleisch und Holz. Der Sohn möchte ablehnen, aber wie könnte er? Schweigend steckt er den Schein ein und späht durch eine Spaltöffnung im Vorhang. In der Ferne ragt ein Kirchturm auf; ein Kreuz, goldschimmernd in der dünnen Abendluft, grüßt vage zu ihm herüber. Sinkt her- Herunter. Und erneut ist er im Begriff, seinen rechten Schuh auf dem Treppenabsatz abzusetzen. Ob er ihn wohl nach den Kopien fragte? Oder hatte er sie vergessen? Noch befindet sich ein kleiner Spalt zwischen Oben und Unten, zwischen der Schuhsohle und dem Teppich. Noch ist die Verbindung nicht hergestellt. Nicht der Vater öffnet die Tür. Mathilde steht dort im Türrahmen, steht stämmig und stark und stumm huscht ein Lächeln über ihr altes freundliches Gesicht. In der Geldbörse des Sohnes befindet sich Geld: einige Münzen von geringem Wert und ein zerknitterter Schein. Dass es nicht derselbe ist, den der Vater ihm gegeben hat. Der andere, der Eigentliche, war fort, war erneut in den Kreislauf des Geldes eingetreten wie er vor langer Zeit in den Kreislauf des Lebens eingetreten war. Welche Hand mochte ihn jetzt, in diesem Augenblick, da seine Schuhsohle sich unaufhaltsam dem roten Teppich nähert, über welche geöffnete Hand halten; wofür würde er ausgegeben in diesem Augenblick, was damit bezahlt? Und wofür hat er das Geld ausgegeben? Er kann sich nicht erinnern. Ein anderer Schein, derselbe Wert. Doch, nein, nicht ganz derselbe. Er würde ihn zurückgeben. Einen anderen, er würde einen Anderen als Ersatz zurückgeben, weil er nicht tun kann, nein, genauer: weil er nicht tun will, was der Onkel von ihm verlangt. Will nicht: vage Zweifel verhindern es. Wage den Zweifel nicht zu - Zu seinen Füßen tanzt man den Totentanz. Zu durchbrechen: den Kreis zu durchbrechen. Totes Gewebe. Kreis des Geldes. Die Männchen halten einander an den Fingern und tanzen auf Geraden, um Winkel, um Kreise. Lebendiges, lustiges Gewebe. Berührte seine Sohle jemals den Boden, würde es Tote geben. Preis des Lebens. Der Vater sitzt in seinem Bett und schweigt. Sein Gesicht ist von tiefen Gräben durch-Furcht von Lebensaltern. Fahl wie das gläserne Licht des Mondes, das durch die Fensterscheiben ins Zimmer fällt, glänzen seine Augen. Glas des Fensters, das ihn starrt und dessen Durchsicht ihn, den Gläsernen, wie Glas durchschaut. Er sitzt in der Fäulnis des Alters, blind und stumm. Sein Atem rasselt und verströmt den süßen Ruch des Alkohols. Mit dürren Fingern deutet er auf eine alte Photographie. Dorthin will er zurück: Weingut am Fuß der Berge. Mannshohe Rebstöcke unter der Sonne Norditaliens. Eine kräftige Hand schirmt grüne Augen von der Sonne ab. Eine Zypresse spendet schimmernde Schatten. Hinter der Gestalt ragt eisig auf die bewehrte Zackenkrone der Alpen. Es wird ein beschwerlicher Anstieg, den Krückstock in zittrigen Fingern, auf dem Rücken der Ballast des Lebens. Hinauf zum Gipfel. Steile Grate einer Totenmaske. Der Vater erzählt eine Geschichte, während sein Sohn ihm beim Einschlafen zusieht. Es ist die Geschichte eines Mannes, der irgendwo in der Einsamkeit der Eiswüste sein Leben aushaucht. Irgendeine Wüste in irgendeiner Welt. Er hätte ihn unterbrechen können. Er hätte einen Brief verfassen können. Er hätte sich das Leben nehmen können, weil der Geldschein in seiner Börse der Falsche war. Aber er sitzt und hört sich die Geschichte eines Mannes an, der stirbt, die ein anderer Mann erzählt, der stirbt. Er wagt nicht, seinen Fuß auf dem oberen Treppenabsatz abzusetzen. Diesmal wird er ihn auf die Kopien ansprechen und diesmal wird er ihm gestehen müssen, dass er ihn betrogen hat, dass das Geld fort ist und der Schein nur scheinbar jener, den er aus der grün-grauen Hand des Vaters erhalten hat. Hinter der Tür wartet der Vater.
- Du passt auf ihn auf?
- Natürlich. Lass uns nur allein. Was, Vater, wir machen uns einen schönen Abend!
- Ich danke dir. Unter uns gesagt, sie wendet ihm den Rücken zu, unter uns gesagt, ich
brauche Abstand. Ich kann mich nicht dauernd um ihn kümmern, das kann ich nicht. Ich brauche
etwas Zeit für mich.
- Das verstehe ich doch. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich tue das gerne.
Genieße du nur deinen freien Abend.
- Das werde ich. Luise, du kennst doch Luise Hoffmann noch; sie und ihr Mann bekommen
immer Karten fürs Konzerthaus. Ihr Mann ist in Tirol und da hat sie mich eingeladen, sie zu
begleiten.
- Schön! Was werdet ihr hören?
- Liszt. Einige Klaviervariationen mit Orchester über das dies irae. Jetzt muss ich aber
wirklich los! Bis nachher!
- Dir auch einen schönen Abend!
Und nur er wartet hinter der Tür. Eine trockene Hand ergreift seinen Arm und zieht ihn in die Wohnung. Seine Augen sind grau, wie seine Haut so grau und alles an ihm ist grünlich-grau. Sie reden kaum. Der Vater fragt, wie es ihm ginge? Er sagt, es ginge ihm gut soweit. Er habe ein neues Angebot erhalten und überlege ernstlich, es anzunehmen. Er könne sich aber noch Zeit lassen und eine solche Entscheidung mochte schließlich gut überlegt sein. Dem Leichtsinn müsse er vorbeugen. Der Vater fragt, wie es ihm ginge. Der Sohn sitzt und schweigt. Wachs tropft von einer Kerze. Er hat einen Zettel und den falschen Geldschein hinterlegt. Er bricht das Sigel nicht. Ein roter Tropfen tropft auf den cremefarbenen Teller. Er rinnt hinab gegen den Stumpf der Kerze als strebe er eine Versöhnung mit der Mutter an. Einstmals loderte das Feuer hell. Der Schein ist schwach. Sein Gesicht starr wie Blei. Er hält Wache neben der gekrümmten Gestalt seines Vaters. Die weiße Decke über dem Brustkorb hebt und senkt sich in regelmäßigen Intervallen. Das sanfte Gewicht der Decke drückt ihn. Er liest in einem Buch. Eine halbe Stunde noch wacht er, dann klappt er die Buchdeckel zu und verlässt das Zimmer. Die Kerze verlischt. Auf der unteren Etage, wo die Gäste übernachten, steht ein Bett für ihn bereit. Er sinkt in einen vagen Schlummer. Er träumt von einer Zypresse. Er wisse, träumt er, nicht, wie eine Zypresse aussieht. Aber schön müsste sie sein, oder zumindest doch diese eine, in deren Schatten er liegt, am Fuße der Alpen, die sich vor seinen Augen auffalten und eine graue Hand streckt sich ihm entgegen und er fällt aus seinem Alpentraum. Unruhe erfasst ihn. Er springt aus dem Bett. Soll er noch einmal nach ihm sehen? Und was geschieht, wenn er es nicht tut? Der Augenblick, bevor die Schmutzsohle seines rechten Schuhs auf den geknüpften Teppich am oberen Treppenabsatz, direkt vor der Wohnungstür, aufsetzt, und sein Vater im drei Meter entfernten Schlafzimmer an den Folgen seines zweiten Hirnschlags stirbt. Sein Blick senkt sich auf die tanzenden Männchen. Sie tanzen den Totentanz. Und er, der bis zu diesem Augenblick Sohn eines Vaters war, setzt seinen Fuß auf den Absatz. Ein Mann hämmert mit der Hand auf die flache Brust des Vaters. Presst die schlaffen Nasenflügel zusammen und legt ihm eine Atemmaske um. Bald nimmt man ihm die Totenmaske ab. Der Mann kniet neben ihm auf dem Teppich und drückt seine Hände auf den Oberkörper des Vaters. Der Rhythmus seines Schlagens und der Schlag der alten Pendeluhr bilden zufällig ein Metrum von musikalischer Schönheit. Sind es Jamben, denkt er, oder Daktylen? Als der Mann im schnellen Schritt der Tänzer seinen Fuß auf den obersten Treppenabsatz setzt, ist es zu spät. Das Totenzimmer ist leer und Grabesstille senkt sich hernieder aus den schweren Wolken, die das Fenster verhängen wie Vorhänge aus Wasserstoff und Staub. Er tritt näher zu der reglosen Gestalt des Vaters und der Dreck unter seinen Schuhen kümmert niemanden.
- Es ist nicht deine Schuld.
- Vielleicht.
- Es wäre passiert, so oder so.
- Wer kann das schon sagen.
- Er hat dich geliebt.
- Ich habe ihn betrogen.
- Es ist nicht deine Schuld.
-Vielleicht.
Sein starres Gesicht. Leer starren die Augen. Vorwurfsvoll und unheilschwanger. Vergeltung für erlittenes Unrecht. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dies Irae, denkt er. Tag des Zorns. Er greift nach einer alten Wachstafel, die auf dem Bücherbord steht. Als Kind hat er oft mit ihr gespielt.
Ein Schriftzug zeugt noch jetzt davon. Zwei der Buchstaben sind unleserlich. Das Wachs ist staubig, grau-grün wie alter Schnodder, in dessen zusammengepresster Form jemand säuberlich seinen Namen hinterlassen hat. Signiertes Werk eines unbekannten Meisters. Aiolos. Das hatte er geschrieben. Herr der Winde. Sagen der Griechen. Jahrtausendealt, weitergegeben von Mund zu Mund und von Hand zu Hand. Ein Vater erzählte sie seinem Sohn. Verschließe den Sack und öffne ihn nie. Hand. Die Tafel fällt ihm aus der Hand. Der Rahmen aus dunklem Holz birst und schlägt klappernd auf dem Boden auf. Splitter von Wachs verteilen sich auf dem Boden. Auffaltet sich das Wachs und in die Tiefe ergießt es sich. Schroff und tief zerklüftet ragen einsame Grate empor, steile Wände und zackige Gipfel. Ein Mund formt sich aus
den Splittern, der ruft. Eine Nase ohne Öffnung. Die stolze Stirn, eingefallene Wangen und aus toten Augen starrt er, der Vater, drohend ihn an. Er sinkt zu Boden und ein stummer Schrei entwindet sich seiner heißen Kehle. Der Vater, wütend, tot und doch nicht tot, grinst böse in die Richtung seines Mörders. Seine Augen heben sich vom Fußboden ab und stieren in heiligem Zorn. Die Fratze heult frenetisch stumme Fetzen eines Liedes. Phantasmagorie der Verrückten! Er denkt an Flucht, doch an Flucht ist nicht zu denken. Ist dies der letzte Tag? Die Sühne für begangenes Unrecht? Und welche Tat ist nun von ihm gefordert? Da gewahrt er, längst kopflos, am Kopfende des Bettes ein kleines beschriebenes Blatt Papier. Das Sigel ist gebrochen. Vorsichtig übersteigt er die Scherben am Boden und setzt sich neben den Toten auf das Bett. Es stehen Worte auf dem Papier, die er selbst verfasst hat. Er blickt hinüber in das Gesicht seines Vaters, das auf weißen Kissen ruht. Er beobachtet ihn ruhig und seine Furcht schwindet. Er sieht die feinen Züge, den freundlichen Mund und die schwachen Wangen. Die Augen sind geschlossen und es scheint, als schliefe er. Aus ihnen schaut friedlich der Vater. Und der Sohn beugt sich zu ihm hinab, zu dem grau-grünen Gebirge, das einer alten Wachstafel entsprungen ist, und kehrt den Staub zusammen. Er sieht in die Augen des Vaters und lächelnd blicken sie zurück. Seine hohe Stirn sammelt er auf vom Boden und lässt sie in einem Sack verschwinden. Seine Wangen, vormals rosig und fest, nunmehr Asche und Staub, werden vom Besen erfasst und in alle Richtungen zerstäubt. Seinen Mund, den wundersam nach Wein und Alter duftenden Mund, nimmt er auf die Schaufel und mit einem letzten Stoß kippt er alles in den Sack, verschließt und trägt ihn fort. Er lehnt an seinen Körper. Tränen bahnen sich den Weg in seine Mundwinkel. Er schaut in das liebevolle Gesicht seines Vaters und spricht, und aus seinen Augen, den toten lebhaften Augen, spricht es zu ihm zurück. Ein Wort nur, ein Wort, doch es genügt, und seine Zunge bricht sich Bahn und er faselt erschöpft die Worte des Vergessens:
ich will dir sagen wie es war
ich will dir alles erzählen
von anfang an damit du mich verstehst
ich will alles gestehen
wie es dazu kam ja und wie es war.

